L’ humanité, c’est moi

Das Theater Dortmund und die Heinrich-Böll-Stiftung versuchen sich an einer Positionsbestimmung von politischem Theater und theatralem Aktivismus. Der moralische Rigorismus des Zentrums für politische Schönheit macht ihnen leider in vieler Hinsicht einen Strich durch die Rechnung.

„Wer mit 20 nicht links ist, hat kein Herz und wer es mit 40 noch immer ist, keinen Verstand“. Manchmal aber, in der Middle-Class-Midlife-Crisis, überkommt auch 40-jährige noch die Sehnsucht nach ein bisschen jugendlicher Rebellion. So oder ähnlich könnte der Impuls ausgesehen haben, der die grüne Heinrich-Böll-Stiftung, deren Chef sonst eher mit „grünem Wachstum“ beschäftigt ist, zur Beschäftigung ausgerechnet mit „Subversion“ brachte. „Mobilize. Theater trifft Aktion. Neue Bühnen der Subversion.“ war eine Reihe von nicht-öffentlichen Workshops und Diskussionen am vergangenen Wochenende in Dortmund überschrieben, die anlässlich einer Zusammenarbeit des Dortmunder Theaters mit der Berliner Aktionskunsttruppe „Zentrum für politische Schönheit“ den Schnittstellen von Theater und politischem Aktivismus nachgehen wollte. Am Ende war dann nicht nur klar, dass die subversiven Zeiten mit 40 zumindest für die Böll-Stiftung tatsächlich und ein für alle Mal vorüber sind, es zeigte sich auch, dass nicht jedes Projekt, auf dem die Label „Aktion“ und „Politik“ kleben, als Referenz für eine Veranstaltung geeignet ist, die Theater und Aktivismus zusammenbringen will.

Doch der Reihe nach. Unter der Überschrift „Mobilize“ lud die Böll-Stiftung bisher internationale Experten und Aktivisten zu aktuellen Themen ein, in den letzten Jahren standen Überwachung und Privatsphäre oder Internet und Menschenrechte im arabischen Frühling auf der Agenda. Nach dem Erfolg der letzten Aktion des „Zentrums für politische Schönheit“, bei der die Aktivisten die Wiese vor dem Bundestag in einen Friedhof für im Mittelmeer ertrunkene Flüchtende verwandelt hatten, wollte der grüne Think-Tank wohl auf den Zug aufspringen und lud Leute wie Florian Malzacher, Leiter des Braunschweiger Festivals Impulse, Franziska Werner, Leiterin der Berliner Sophiensäle, sowie weitere Schauspieler und Regisseurinnen zu einem offenen Austausch mit Vertretern etwa der „Re-Publica“, der WLAN-Initiative „Freifunk“ oder des Dortmunder Straßenmagazins „Bodo“ ein, um allgemein nach Schnittstellen ihrer jeweiligen Arbeit zu suchen. Ein konkretes Ergebnis sei nicht das Ziel des Treffens gewesen, sagt der Verantwortliche der Böll-Stiftung, Christian Römer, im Gespräch – und die relative Beliebigkeit ist auch nicht das größte Problem der Veranstaltung.

Das größte Problem war der Referenzrahmen für politischen Aktivismus, der vom „Zentrum für politische Schönheit“ (ZPS) beigesteuert wurde. War der unerschütterliche Glaube an die eigene moralische Überlegenheit zwar auch schon bei den letzten Aktionen zu erkennen, , so ist „2099“ nurmehr ein wirres Konvolut aus historischer, begrifflicher und nicht zuletzt theatraler und politischer Ungenauigkeit, das dem Besucher stets nur sein ganz persönliches universelles moralisches Totalversagen im Angesicht weltweiter Kriege und Katastrophen aufs Brot schmiert. Du bist schuld! Du hast nichts getan! Du wusstest Bescheid! Auf der Theaterbühne entpuppt Ruch sich als moralischer Reinlichkeitsfanatiker von lutherscher Dimension. Pathos, Heldentum, Schuld und Ehre, das sind seine Kategorien. Hilfe für Flüchtlinge am Hauptbahnhof? Zu gering, zu klein! Bündelweise lässt er gespendete Kleidung „vom Hauptbahnhof“ zurück ins Publikum werfen, Zuschauerinnen müssen auf der Bühne „dem Humanismus Treue“ schwören und es werden „Urteile der Geschichte“ verlesen, die für Ruch weder kontingent noch von ökonomischen Kräften getrieben, sondern vom menschlichen Willen vorherbestimmt ist. So verstrickt sich das nietzscheanische Künstlergenie im Phantasma seiner eigenen Genialität – und das ist nicht nur schade, weil der politisch-gesellschaftliche wie der individuelle Umgang mit epochalen Menschheitsverbrechen wie dem Krieg in Syrien natürlich ein großes, wichtiges Thema ist. Es ist auch schade, weil Ruch in seinem urdeutschen Idealismus gleichermaßen blind bleibt für die täglich geleisteten kleinen Gesten des Humanismus wie für Ursachen und Hintergründe der gegenwärtigen Krisen. Den gesamten Abend über fällt etwa das Wort Kapitalismus nicht ein einziges Mal und der Abend endet mit einer dümmlich-ausgestellten Provokation, in dem sich die Darsteller angeblich auf den Weg machen, „das Ding“, nämlich ein Leopardenbaby im Dortmunder Zoo, zu töten, womit wohl Veganer auf die moralische Verfehlung hingewiesen werden sollen, nicht zuallererst und immer nur das zu sein, was die ZPS-Truppe Humanisten nennt.

Diese intellektuelle wie moralische Selbstüberschätzung färbt leider auch auf die begleitende Veranstaltung der Böll-Stiftung ab: Denn hier wird die Kunst zugunsten einer Politik aufgegeben, deren inhaltliche Leere mit Neopathos verschleiert wird. Christoph Schlingensief, der in Sachen politischer Aktionskunst für viele bis heute als Messlatte gilt, rief noch „Künstler gegen Menschenrechte“ ins Leben oder inszenierte im Angesicht der Balkankriege der 1990er-Jahre Nachtwanderungen auf alten NVA-Übungsplätzen, denen stets Doppelbödigkeit und Abgründigkeit eigen war, in denen Pathos immer dazu da war, sogleich wieder gebrochen, variiert und für die Zuschauer dechiffriert zu werden. So trug Schlingensief dazu bei, Techniken und Mechanismen von Macht und Ohnmacht, von Geschichte und Gesellschaft für einen Moment durchsichtig werden zu lassen und schuf tatsächlich Situationen subversiver Kraft, in denen Kunst einen utopischen, und ja, humanistischen Gegenpol zur Realität setzte. Im Vergleich dazu sind die Begriffe „Subversion“ für die Böll-Stiftung und „Humanismus“ für Philipp Ruch nur austauschbare „Brands“, PR-Hülsen, die genau das erzeugen, was das ZPS in Dortmund dem Innenleben der Menschen unterstellt: „Gähnende Leere.“

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