Die Konferenz „A Critique of Transatlantic Reason“ untersucht die historischen, politischen und kulturellen Dimensionen der transatlantischen Beziehungen und fragt danach, wie Europa sich neu definieren kann, wenn die USA ihre Strahlkraft verlieren.
Der „Westen“, das war schon immer eine umstrittene und oft diffuse Konstruktion. Wer ihm angehört, wofür er steht und wofür er verantwortlich ist, war und ist Gegenstand heftiger Debatten, insbesondere in Deutschland, wo tiefes Misstrauen gegen einen als oberflächlich und dekadent dargestellten Westen eine lange Tradition hat.
Totgesagt wurde der Westen jedenfalls schon oft und Krisen sind ihm eher Normalität als Ausnahme. Es waren nicht zuletzt die inneren Widersprüche, die den liberalen westlichen Gesellschaften jene Spannung verliehen, die viel zu ihrer Dynamik, zu ihrer Integrationsfähigkeit und ihrer Strahlkraft beigetragen haben. Seit einigen Jahren verbinden sich aber mehrere globale Krisen zu einer Großkrise, die auch dem Westen, wie man ihn bisher kannte, ein Ende bereiten könnte. Mit der zweiten Amtszeit des US-Präsidenten Donald Trump scheint der transatlantische Konsens – liberale Demokratie, Bürgerrechte, Kapitalismus –, der seit 1945 konstitutiv für „den Westen“ war, in einen neuen Antagonismus umgeschlagen zu sein: Die USA haben sich auf die Seite der Antidemokraten geschlagen, die Führungsmacht des liberalen Westens wird illiberal, ihre offene Gesellschaft mit Gewalt geschlossen. Der US-amerikanische Vizepräsident „JD“ Vance setzte diesen Seitenwechsel vor den Augen der Weltöffentlichkeit auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz im Februar in Szene und löste damit bis heute nachwirkende Schockwellen aus.
Unter diesem Eindruck trafen sich am letzten Oktoberwochenende Intellektuelle, Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen zu einer bemerkenswerten Konferenz am Berliner Moritzplatz. Eingeladen hatten der Historiker Philipp Felsch von der Humboldt-Universität, der in Princeton lehrende Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller sowie die Kulturwissenschaftler Danilo Scholz und Daniel Höhn; gekommen war eine durchaus hochkarätige Mischung von Historiker:innen, Geistes- und Politikwissenschaftler:innen, von Leuten aus dem Kulturbetrieb und der Think-Tank-Szene. Unter dem bezugsreichen Titel „A Critique of Transatlantic Reason“ wollte die Konferenz analytische Schlaglichter auf eben jene „transatlantische Vernunft“ werfen, also auf den Westen, seine historische Entstehung und seine Widersprüche, das transatlantische Verhältnis im Zusammenhang geopolitischer Verwerfungen und schließlich auch auf das Selbstverständnis der Deutschen.
So kreiste die Debatte am ersten Tag hauptsächlich um die Befindlichkeiten des alten Westdeutschland und das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und den USA. Der Historiker Jakob Eder stellte die Herausbildung der zuletzt von postkolonialer Seite scharfen Angriffen ausgesetzten deutschen Erinnerungskultur als nicht ganz freiwillige Reaktion der Regierung Kohl auf das ihnen unliebsame Holocaust-Museum in Washington, D.C., dar. Die Kunsthistorikerin und frühere Documenta-Archivarin Birgit Jooss ging auf die Zusammenarbeit der Kasseler Kunstschau mit dem New Yorker Museum of Modern Art, die Rolle der CIA im Hintergrund und deren Unterstützung der abstrakten Arbeiten zeitgenössischer amerikanischer Künstler ein. Bei beiden Vorträgen war das Raunen im Hintergrund nicht zu überhören, erschienen die USA doch als diffus übermächtige Instanz, die die deutsche Gesellschaft und Politik oder den europäischen Kunstmarkt hinter den Kulissen im eigenen Interesse manipulieren und instrumentalisieren wollte.
Weniger weltanschaulichen Nebel gab es beim Thema Westbindung. Dem Göttinger Staatsrechtler Florian Meinel ging es nicht um die tatsächliche oder unterstellte Einflussnahme der US-Amerikaner, ihn interessierte mehr, was nach 1990 in Europa politisch möglich gewesen wäre und wie Deutschland eine vor allem von Frankreich angestrebte tiefere europäische Integration immer wieder subtil unterlief. Bemerkenswert sei vor allem, so Meinel im Gespräch, wie sehr sich Westdeutschland politisch und gesellschaftlich an die USA angelehnt habe und wie schwer es dem demokratischen Lager falle, sich nun, da die USA sich vom demokratisch-liberalen Konsens verabschiedeten, zu reorientieren.
Während man sich in Deutschland seit jeher ausgiebig mit sich selbst beschäftigt, löst die Abkehr der USA von Europa und insbesondere die neue Nähe zwischen ihrer Regierung und der Russlands in Osteuropa blanke Angst aus. Es ist der Tagung hoch anzurechnen, dass eine explizit osteuropäische Perspektive auf den Westen und auf Russlands Krieg gegen die Ukraine gleich mehrfach vertreten war. So führte der polnische Historiker Jarosław Kuisz aus, wie die russische Aggression in Polen und anderen Ländern des ehemaligen sowjetischen Machtgebiets Erinnerungen an alte Traumata wachgerufen habe. Gemeinsam mit der ebenfalls auf der Konferenz anwesenden Soziologin Karolina Wigura hat er das Buch „Posttraumatische Souveränität“ (2023) geschrieben, in dem die beiden den politischen und gesellschaftlichen Langzeitwirkungen dieser Historie nachgehen. Wie Kuisz betonte auch Wigura, wie kurzfristig im Vergleich dazu das historische Gedächtnis sei und wie schnell die Menschen vergäßen, was beim neuerlichen Flirt mit Willkürherrschaft und faschistischer Ideologie auf dem Spiel stehe.
Hoffnung, dieser Flirt mit dem Faschismus und der weitere Aufstieg der Antidemokraten werde sich aufhalten lassen, wollte keine:r der Teilnehmenden verbreiten, weder mit Blick auf Europa noch auf die USA. Der US-amerikanische Historiker Michael Kimmage, der Trump auch als den „ersten nichtwestlichen Präsidenten der USA“ bezeichnet, sah angesichts der neobarocken Inszenierung von Macht, die Machthaber wie Trump, Putin oder Erdoğan verbinde, vielmehr eine Art neues Mittelalter aufziehen, geprägt von globaler Instabilität und Rivalität der Großmächte.
Es war ausdrückliches Anliegen der Veranstaltung, Kritik an ihrem Gegenstand zu üben, nach Genese und Gestalt des vielschichtigen europäisch-amerikanischen Verhältnisses zu fragen und die Ambivalenzen des transatlantischen Westens zwischen Geschichts-, Politik- und Kulturwissenschaften zu diskutieren. Die Frage, welche politischen, ökonomischen und technologischen Entwicklungen in die Misere der Gegenwart geführt haben, stand daher ebenso wenig auf dem Programm der Konferenz wie ein Ausblick in die nähere Zukunft. Das erklärt auch, warum globale Herausforderungen wie die Klimakrise oder technologische Verwerfungen, wie sie die sogenannte Künstliche Intelligenz mit sich bringt, gar nicht oder nur am Rande erwähnt wurden, obwohl ihr Einfluss auch auf die Krise des transatlantischen Westens kaum überschätzt werden kann. Am Ende blieb so vor allem der Eindruck, dass der Westen tatsächlich vergessen hat, was auf dem Spiel steht, und im Angesicht gewaltiger globaler Herausforderungen und dystopischer Szenarien lieber die Flucht in die Selbstzerstörung antritt, als die Übel an der fossilen, kapitalistischen oder autoritären Wurzel zu packen.