Die Bundesregierung trat mit dem Anspruch an, „Fortschrittskoalition“ sein zu wollen, von Zukunftsoptimismus im Land kann indes keine Rede sein. Rahel Jaeggi beschäftigt sich mit der Frage, was Fortschritt heute bedeutet und wie er erreicht werden kann.
Frau Jaeggi, die aktuelle Lage scheint von Stagnation und Lähmung auf allen Ebenen geprägt. Gibt es überhaupt noch Fortschritt?
Aktuell herrscht eher das Gefühl, dass Stillstand und Rückschritt dominieren. Wir sollten dabei aber nicht vergessen, dass noch vor einigen Jahrzehnten Menschen etwa für ihre sexuelle Orientierung im Gefängnis gelandet sind, dass sich auch die Lage der Frauen an vielen Orten der Welt deutlich verbessert hat. Es gib also durchaus noch Fortschritt. Was gegenwärtig jedoch fehlt, ist, dass verschiedene Entwicklungen zusammenkommen und sich zu einer Dynamik zum Besseren entfalten. Das aktuell vorherrschende Zeitgefühl ist geprägt von sich überlagernden und sich verstärkenden Krisen, gerade mit Blick auf ökologische Katastrophen.
Was verstehen Sie denn unter Fortschritt?
Ich spreche von Fortschritt als einem breiten Lern- und Erfahrungsprozess, bei dem es weniger auf Ziele als eben auf den Prozess selbst ankommt. Es geht um Problemlösungsprozesse zweiter Ordnung. Gesellschaften haben kein Ziel, Gesellschaften lösen Probleme. Das geschieht in komplexen Wechselverhältnissen aus gesellschaftlichen Praktiken, Institutionen und materiellen Bedingungen, die sich gegenseitig beeinflussen. Was fortschrittlich ist, können wir dann anhand besser oder schlechter gelingender Prozesse anschauen. Es geht aber immer um ein Zusammenspiel vieler Faktoren.
Woran hakt es zurzeit?
Wir erleben gerade, was nicht gelingende Krisenbewältigung bedeutet. Das betrifft vor allem unseren Umgang mit der Natur, die Transformation des Sozialstaats, die Wohnungspolitik, die Mietenentwicklung, die gesamte geteilte soziale Infrastruktur, die wir als Gesellschaft zum Zusammenleben benötigen und die den veränderten Lebensbedingungen hätte angepasst werden müssen. Es sind Krisendynamiken entstanden, die nicht auf dem Level adressiert werden, auf dem sie adressiert werden müssten. Nicht dass es Krisen gibt, ist das Problem, aber die Krise der Krisenbewältigung, die wir erleben, führt letztlich nicht nur zu Stagnation, sondern zu Rückschritt. Am Ende profitieren dann regressive Kräfte wie die AfD.
Wann und unter welchen Bedingungen sind Krisen zu groß für diese Form gesellschaftlicher Bewältigung?
Ich weiß es nicht. Aber ich glaube es wäre ein Fehler, im Angesicht der großen Probleme der Gegenwart alles über Bord zu werfen, was darüber hinaus geht, nur das Überleben zu sichern und sich etwa nur noch um Anpassung zu bemühen. Die Vorstellung aufzugeben, dass es besser werden könnte, wäre ein Fehler für die gesellschaftliche Selbstverständigung. Hannah Arendt hat gesagt: „Man überlebt nie nackt.“ Man wird die großen, apokalyptischen Gefahren, die mit der Klimakrise verbunden sind, nicht bannen, wenn man nicht auf mehr zielt als das nackte Überleben. Viele soziale Bewegungen und Initiativen tragen Vorstellungen von einem besseren Leben sozusagen Huckepack. Ohne diese Vorstellungen würde niemand mehr für irgendeine bessere Zukunft kämpfen.
Könnte man folgern, je größer der Veränderungsdruck, desto größer sind die Chancen?
Nein, wir sehen gerade, dass dies nicht so ist. Es gibt offensichtlich Krisen, die dringend nach Transformation rufen und trotzdem tritt diese nicht ein. Dennoch kommen Veränderungen nicht aus dem Nichts, sondern sind bedingt und getrieben von Krisen und ermöglicht durch Konstellationen, die von politischen und gesellschaftlichen Kräften erkannt und genutzt werden müssen.
Ist Fortschritt immer expansiv? Bedeutet Fortschritt also Ausdehnung?
Wenn es um quantitative Ausdehnung geht, würde ich sagen: Nein. Wir sind gesellschaftlich in einer Situation, in der diese alte, expansive Wachstumsdynamik revidiert und verändert werden muss. Fortschritt wäre, Wachstumsdynamiken qualitativ zu betrachten und auf ein solches Maß zuschneiden zu können, dass sie dem Leben der Menschen zuträglich wären. Ich glaube nicht, dass es ohne Dynamik gehen wird, aber sie muss in eine gesellschaftlich produktive Richtung gelenkt werden, die allen Menschen zugutekommt und die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen sichert. Das steht dem quantitativ exponentiellen Wachstum entgegen, kennzeichnet aber tatsächlichen Fortschritt.
Welche Bedeutung hat Innovation für Sie?
Natürlich brauchen wir permanent neue Ideen, um die Probleme zu bewältigen, die sich uns stellen. Die Frage ist, durch was die Implementierung neuer Technologien wie beispielsweise KI getrieben wird und wie diese auf die Gesellschaft wirken. Ganz konkret: Wir wirken sich die Digitalisierung der Arbeitswelt, unserer Kommunikationsverhältnisse und ganz aktuell Künstliche Intelligenz auf die Bedingungen auch von sozialem und gesellschaftlichem Fortschritt aus?
Haben Sie noch Zukunftsoptimismus?
Das schwankt von Tag zu Tag. Es ist nicht so, dass ich keine Vorstellung davon hätte, es könnte eine Entwicklung hin zum Besseren geben. Wenn wir die Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, in ihrer Logik weiter denken und es nicht gelingt, diese schnell und ernsthaft zu bekämpfen, dann wird die jetzt heranwachsende Generation aber ein deutlich kompliziertes Leben haben, als wir es gegenwärtig haben. Ich sehe also eine große regressive Bedrohung. Auf der anderen Seite wäre meine Diagnose deutlich düsterer ohne Ereignisse wie die massenhaften Kundgebungen gegen die AfD, die wir aktuell erleben. Dass die Zivilgesellschaft so breit mobilisierbar ist, stimmt mich dann doch optimistisch, auch was die großen Herausforderungen unserer Zeit angeht.
Rahel Jaeggi ist Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet dort seit 2018 das Centre for Social Critique. Zuletzt erschien von ihr „Fortschritt und Regression“ im Suhrkamp Verlag.
Das Interview ist erschienen im Newsletter ESG.Table #80, 14. Februar 2024