„Ein Modell, das nur für Deutschland funktioniert“

Irland gilt als Klassenbester unter den „Programmländern“. Was ist dran an der Erfolgsstory?

Während Griechenland von Politik und Medien mehrheitlich als schwarzes Schaf der Eurozone dargestellt wird, ist Irland der „Posterboy“ der Eurokrise. Folgt man den offiziellen Darstellungen von EU und irischer Regierung, dann war das 2011 von Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds verordnete Sparpaket ein voller Erfolg. Nach zwei harten Jahren brumme die Wirtschaft und es komme wieder Geld ins Land, verkünden irische Politiker mit Genugtuung. Vor dem Hintergrund der jüngsten Eskalationen vor allem zwischen Griechenland und Deutschland und den begleitenden Diskussionen über die Zukunft Europas Grund genug, dem irischen Umgang mit Krise und Austerität vor Ort in Dublin nachzuspüren. Schließlich galt die über Jahrhunderte von Armut und Auswanderung geprägte „grüne Insel“ bis zum Crash 2008 Jahren als „keltischer Tiger“, als neoliberale Blaupause für Europa, als Beweis für die Richtigkeit der neoklassischen Wirtschaftslehre.

Seit den 1990er-Jahren konnte die Regierung regelmäßig neue Wachstumsrekorde verkünden, internationale Unternehmen vor allem aus der IT- und Finanzindustrie wurden mit niedrigen Steuersätzen, zusätzlichen individuellen Rabatten und minimaler wirtschaftlicher Regulierung angelockt, Irland solle das „beste kleine Land der Welt sein, um Geschäfte zu machen“, lautete das Mantra der Regierung. Ausländische Direktinvestitionen waren das Erfolgsrezept und sind für die irische Wirtschaft bis heute von enormer Bedeutung – ohne freilich allzu viel Auswirkungen auf die regionale Wirtschaft und das Leben der meisten Iren zu haben. Das Irland der kleinen Leute ist weitaus mehr geprägt vom irischen Modell der Sozialpartnerschaft, in dem der Staat nur eine geringe, die katholische Kirche dafür eine umso größere Rolle spielt – das sich aber als stabil genug erwiesen hat, um die schlimmsten Folgen der Krise aufzufangen.

Dieses Irland der kleinen Leute ist nirgendwo weiter weg als im ehemaligen Hafengelände der irischen Hauptstadt. Die Dubliner Docklands und insbesondere das dort ansässige „International Financial Services Centre“ mit seinen steuerlichen Ausnahmeregelungen waren Schauplatz einer zügellosen neoliberalen Party, die die Phantasien von Investoren auf der ganzen Welt anheizte und die ausweislich der regen Bautätigkeit auch nach der Krise keineswegs beendet ist. Die Steueroase Dublin ist nicht nur Sitz der Europazentralen von Google, Apple, Facebook, von der amerikanischen AIG über die spanische Bankia bis zur deutschen Depfa Bank sind hier auch all jene Namen versammelt, die seit dem Ausbruch der Finanzkrise stellvertretend für einen außer Kontrolle geratenen Finanzsektor stehen. Würde man die staatlichen Hilfen zusammenzählen, die die in diesem Areal vertretenen Unternehmen insgesamt erhalten haben, die Summe würde sich locker auf einige tausend Milliarden Euro addieren.

Rund 65 Milliarden davon waren irische Steuermittel, die das Land seinen in Turbulenzen geratenen Banken als Kapitalspritze zur Verfügung stellte. Wenig später geriet das Land an den Rand des Staatsbankrotts. Denn wie andere Länder auch konnte sich der irische Staat infolge der Bankenrettungen alsbald nicht mehr durch die Aufnahme neuer Kredite an den internationalen Geldmärkten refinanzieren. Und wie in anderen Ländern auch erzwang die Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds im Gegenzug für das dann bereits 85 Milliarden Euro umfassende Hilfsprogramm auch in Irland die Umsetzung einer harten Austeritätspolitik: Auf der einen Seite Lohn- und Rentenkürzungen von bis zu 20 Prozent, drastischer Personalabbau im öffentlichen Sektor, Abbau von Arbeitnehmerrechten und Kürzung von Sozialleistungen, auf der anderen Seite Beibehaltung der niedrigen Unternehmensteuern, Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Verkauf von Staatsbesitz. Wenig überraschend waren auch die Folgen weitgehend die gleichen wie in den anderen „Programmländern“: Sprunghaft steigende Arbeitslosenzahlen, Einbruch der Binnennachfrage um 25 Prozent sowie massenhafte Abwanderung junger, hochqualifizierter Arbeitnehmer, vor allem nach Australien und in andere englischsprachige Länder.

Aus dieser Perspektive ergibt sich in Irland also kein anderes Bild als in Italien, Portugal, Spanien oder Griechenland, die sich allesamt ähnlichen Maßnahmen unterwerfen mussten – und allesamt ähnliche Folgen zu verkraften haben. Und doch gibt es scheinbar signifikante Unterschiede. Denn während aus Südeuropa nur äußerst selten positive Meldungen über die wirtschaftliche Entwicklung unter dem Austeritätsregime zu lesen sind, erscheint es im Fall von Irland keineswegs so, als hätten die Troika-Maßnahmen dem keltischen Tiger den Garaus gemacht. Die offiziellen wirtschaftlichen Prognosen sind gut, die Wirtschaft wächst, täglich entstehen neue Arbeitsplätze. Und wo vor allem Spanien und Griechenland als Folge der Krise von wochen- und monatelangen Protesten erschüttert wurden, blieb es in Irland weitgehend ruhig. Im Sommer 2015 sind die irischen Medien eher mit dem im Frühjahr 2016 anstehenden 100-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit von Großbritannien beschäftigt als mit den Folgen der Eurokrise. Und während in Athen die weitgehende Abschaffung von Arbeitnehmerrechten vollzogen wird, hat das irische Parlament gerade das während der Krisenjahre außer Kraft gesetzte Tarifrecht neu und in erweiterter Form verabschiedet, der Mindestlohn wurde von 8,65 auf 9,15 Euro angehoben und es wird über eine „Universal Social Charge“ diskutiert, eine aus Steuermitteln finanzierte allgemeine Grundsicherung.

Ist Irland also möglicherweise der Beweis, das das Austeritäts-Voodoo der EU entgegen der Meinung der meisten internationalen Ökonomen doch erfolgreich sein kann? Durch eine von Ideologie und Eigeninteressen gefärbte Brille betrachtet sei dies durchaus der Fall, sagt Frank Conolly, der von einem Büro mit Blick über die irische Hauptstadt und in Sichtweite des Dubliner Finanzdistrikts die Öffentlichkeitsarbeit der irischen Dienstleistungsgewerkschaft SIPTU leitet. Aus der Perspektive des neoklassischen Dogmas seien die internen Abwertungen der Löhne und öffentlichen Ausgaben in den „Programmländern“ notwendige Anpassungen innerhalb der Eurozone, die dem übergeordneten Ziel der Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Währungsraumes dienten und der einzig verbliebene Weg für in Schwierigkeiten geratene Euroländer seien. Aus dieser Perspektive hätte das Land eben zuvor über seine Verhältnisse gelebt und müsse nun die Zeche zahlen. Natürlich habe sich der Lebensstandard der „working people“ in der Krise deutlich verschlechtert, berichtet Conolly, und fügt hinzu: „Der Euro war für Irland nicht in gleichem Maße ein Erfolg wie für Deutschland“. Der Gewerkschafter analysiert die gegenwärtige Politik der EU als einen groß angelegten und europaweiten Angriff der Mitte-Rechts-Kräfte auf soziale Errungenschaften der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Parteien in Europa – und sieht keinerlei „Garantie, dass es in absehbarer Zeit anders“ werde. Denn die meisten Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien in Europa hätten „das neoliberale Narrativ akzeptiert“, unter ihnen auch die deutschen Sozialdemokraten. Beim Konflikt zwischen der deutschen Regierung und Griechenland gehe es daher weniger um den Euro als um die künftige Ausrichtung der EU, um das neoliberale gegen das soziale Europa – und darum, eine Warnung an Italien, Spanien und in letzter Instanz auch an Frankreich zu senden: „Wenn ihr uns nicht folgt, droht euch das gleiche Schicksal wie den Griechen.“

David Begg stößt fast durchgehend in das gleiche Horn. Der frühere Generalsekretär des Gewerkschafts-Dachverbands Irish Congress of Trade Unions (ICTU) ist so etwas wie der Elder Statesman der irischen Gewerkschaften. Er ist heute Direktor der gewerkschaftsnahen Denkfabrik TASC, die sich mit einem kleinen Team von rund 10 Mitarbeitern der Bekämpfung der extremen Einkommensunterschiede in Irland verschrieben hat. In einem kleinen Büro mitten im Ausgehviertel Dublins stellt Begg zusammen mit seinem Kollegen Cormac Staunton die aktuellen europäischen Entwicklungen in einen größeren zeitgeschichtlichen Zusammenhang und konstatiert einen vorläufigen Sieg des Ordoliberalismus in der EU, den er als deutsche Ausprägung des Neoliberalismus bezeichnet und nach dessen Vorstellungen die derzeit maßgeblichen Institutionen der EU und insbesondere die Europäische Zentralbank gebaut seien. Während die Währungshüter der EZB einseitig auf die Stabilität des Euro achteten, stünde ihnen keinerlei institutionalisierte soziale Komponente gegenüber: „Mario Draghi muss sich um die 26 Millionen Arbeitslosen in der EU keine Gedanken machen“, so Begg. Und weiter: „Das ist ein Modell, das für Deutschland funktioniert, das aber an der europäischen Peripherie als autoritärer Neoliberalismus ankommt.“

Auf die Zukunft Europas angesprochen ist Begg nicht viel optimistischer als sein Kollege Conolly, beide halten die aktuelle Politik der EU für eine Bedrohung der europäischen Idee, beide halten das „soziale Europa“ derzeit für tot. Während Conolly in erster Linie vor den Gefahren durch Rechtspopulisten warnt, die mit Ausnahme von Irland fast überall in der EU in den Startlöchern stehen, zeichnet Begg mit Hilfe des ungarisch-amerikanischen Soziologen Karl Polanyi ein globaleres Bild der Lage. Eine von der Gesellschaft und ihren Bedürfnissen entkoppelte, globalisierte Wirtschaft führe zwangsläufig zu lokalistischen und protektionistischen Gegenbewegungen die sich den bekannten politischen Kategorien entziehen und in unerwarteter Weise und an überraschenden Orten auftauchen würden. Dies sei, so Begg, eine zwangsläufig aufkommende Gegenbewegung gegen die „Marktgesellschaft“, in der alles Gesellschaftliche der Logik der Märkte untergeordnet werden.

Am Ende verweist Begg auf die existierenden internationalen Strukturen von Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien, die durchaus zur Wiederbelebung der Idee eines sozialen Europa beitragen könnten – wenn sie sich zum Gefäß jener von Polanyi beschriebenen „Doppelbewegung“ machen würden. Den Rechtspopulisten sollte das Feld in jedem Fall nicht überlassen werden.