Als die heutige Dramaturgische Gesellschaft 1956 in Berlin aus dem bereits 1953 gegründeten Dramaturgischen Arbeitskreis entstand, lag die ehemalige Reichshauptstadt noch in den Trümmern von tausend Jahren Deutschland. In der jungen BRD wollte die Mehrheit zwischen 1933 und 1945 nichts gesehen, nichts gehört und nichts gewusst haben und im Osten baute ein Heer ehemaliger Widerstandskämpfer eine „junge Welt“ als Alternative zum bürgerlichen Kapitalismus auf, während sich dieser im Westteil des Landes mit einem später Wirtschaftswunder genannten Aufschwung bis dahin ungewohnt breite Akzeptanz zu erkaufen im Begriff war. Die politischen und gesellschaftlichen Fronten waren indes klar gezogen: Die Sozialdemokratie hatte noch die Überwindung der Kapitalherrschaft im Programm, harte Arbeit führte noch zu bescheidenem Wohlstand, Frauen benötigten zur Eröffnung eines Bankkontos noch das Einverständnis ihres Ehegatten, Migration gab es allenfalls von Deutschland in die USA (oder bei entsprechender Vergangenheit nach Argentinien) und die Zukunft war grundsätzlich noch eine bessere. Kurz: Die moderne Welt war noch die Welt der Moderne, das Präfix „Post“ war im Zusammenhang mit den Begriffen Politik, Demokratie, Kolonialismus und erst recht Dramatik noch ebenso unbekannt wie Diskussionen über Globalisierung, Digitalisierung oder die Bedrohung durch den Klimawandel.
Als die Dramaturgische Gesellschaft im Januar 2016 zur Jubiläumskonferenz anlässlich ihres 60-jährigen Bestehens unter der Überschrift „Was tun. Politisches Handeln jetzt“ ins Deutsche Theater Berlin lud, war diese Nachkriegsordnung vollständig verschwunden, zumindest auf den ersten Blick. Das wiedervereinte Deutschland scheint sich nicht nur vom Paria zum Parvenü Europas gewandelt zu haben und für zahlreiche Migranten bevorzugtes Ziel ihrer Flucht vor Krieg, Unterdrückung und Armut zu sein, es ist auch weniger verträumt, weltoffener, diesseitiger, westlicher geworden. Die Welt ist durch Billigflieger und vor allem durch das Internet zum globalen Dorf geworden, Berlin und New York liegen heute in vielerlei Hinsicht näher beieinander als Berlin und Bremerhaven. Der westliche Kapitalismus hat unterdessen seine sozialistischen Rivalen im Osten plattgemacht, sich selbst zum alleinigen Sieger und die Geschichte für beendet erklärt. Seither führt sich der „alte Schlawiner“ aber immer öfter wie ein ziemlicher Tyrann auf, droht der oft etwas umständlichen Tante Demokratie mit Aufkündigung der einst gefeierten Liaison und stellt die Existenz von so unprofitablen Einrichtungen wie Theatern zunehmend offen in Frage.
Doch wo es Macht gibt, dort gibt es auch Widerstand, wissen wir von Foucault, und zudem ist in den 60 Jahren dazwischen einiges geschehen: Die übersichtliche Ordnung der 1950er ist einem intellektuellen, kulturellen und politischen Durcheinander gewichen, die „Disziplinargesellschaft“ der Industrialisierung ist im Begriff, zur „Kontrollgesellschaft“ der Digitalisierung zu werden um noch einmal Begriffe von Foucault zu bemühen. Während die großen politischen Konfliktlinien in der Industriemoderne zumeist um Verteilung von materiellem Wohlstand und um gesellschaftliche Teilhabe gingen und Rollenbilder und Lebensstile relativ unangetastet ließen, so ist seit 1968 vom Sex über die Ernährung bis zur Sprache fast alles irgendwie politisch geworden. Und seit dieser Umstand, wenn auch oft widerwillig, schließlich doch gesellschaftlicher Konsens geworden ist, findet Politik nur noch im schmalen Korridor der Alternativlosigkeit statt. Frühere Linke und Linksliberale haben ihren Frieden mit dem Kapital gemacht, im Gegenzug lehnen die Konservativen Begriffe wie Einwanderungsgesellschaft oder Gleichberechtigung nicht mehr rundheraus ab und jedes große Unternehmen leistet sich eine Abteilung für „Corporate Social Responsibility“. Die Zeichen haben ihren eindeutigen Bezug zum Bezeichneten verloren, die rebellische Geste ist kein zuverlässiger Verweis auf Rebellion, „der Kapitalismus vollendet sich in dem Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft“ (Byung-Chul Han). Zugleich wird die globalisierte Welt von einer multiplen Krise heimgesucht, in deren Angesicht nationale Regierungen immer machtloser erscheinen: Die noch immer virulente Euro- und Finanzkrise, die ja eigentlich eine veritable Systemkrise ist, die weltweiten Kriege, die daraus resultierenden Migrationsbewegungen, die gigantische Kluft zwischen Arm und Reich auf globaler wie auf regionaler Ebene und der sich abzeichnende Klimakollaps wirken als Bedrohungsszenarien von apokalyptischer Dimension.
Was tun? ist also eine Frage, die weitaus mehr als eine Dimension hat und als Überschrift für eine Dramaturgenzusammenkunft, die der Frage nach der Gestalt politischen Handelns in der Gesellschaft und im Theater nachgehen wollte, recht passend gewählt war. „Was tun. Politisches Handeln jetzt“ war dann nicht nur mehrdimensional, sondern so widersprüchlich wie die Gegenwart selbst und schließlich keinesfalls so konfrontativ, wie es das im Titel anklingende Lenin-Zitat nahelegen könnte. Im Gegenteil: Die kuschelig-konsensuale Richtung wurde schon am Vorabend im Bundestag sichtbar, als den Teilnehmern anlässlich eines Austauschs mit Abgeordneten bei Mettwurststulle und Prosecco in den Räumen der SPD-Fraktion treuherzig versichert wurde, die deutsche Schuldenbremse, also das selbstauferlegte Verbot, neue Staatsschulden aufzunehmen, das nach Ansicht von Experten insbesondere Bundesländer und Kommunen von Kiel bis Konstanz in massive finanzielle Schwierigkeiten bringen wird, stelle keinerlei Bedrohung für die öffentlich geförderte Theaterlandschaft dar.
Auch der Eröffnungsvortrag am folgenden Vormittag, mit dem der Sozial- und Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn den thematischen Rahmen für die Tagung setzte, zielte mehr auf einen pragmatisch-affirmativen Umgang mit den tiefgreifenden Transformationsprozessen unserer Zeit als auf eine eigentlich kritische Perspektive. Die „Simulative Demokratie“, die der in Wien lehrende Blühdorn als die Politikform „nach der postdemokratischen Wende“ ausgemacht hat, sei geprägt vom Widerspruch einer „Gleichzeitigkeit von sinkendem Vertrauen in demokratische Verfahren und Institutionen einerseits und steigenden demokratischen Ansprüche andererseits“, den es aber nicht etwa zu überwinden sondern vielmehr auszuhalten und zu gestalten gelte. Als Belege gelten ihm Proteste wie der kurze Sommer von Occupy oder die Anti-Bahnhofsbewegung Stuttgart21, die zwar ein deutliches Misstrauen gegenüber dem herrschenden System formulierten, zugleich aber durch ihre schiere Existenz die Demokratie vitalisierten. Während Ansätze wie Colin Crouchs Postdemokratie oder die u.a. von Jacques Rancière beschriebene Post-Politik dem herrschenden, bürgerlich-kapitalistischen Machtkomplex gegenüber explizit kritisch sind, scheint Blühdorn mehr daran interessiert, die Maschine am Laufen zu halten. Sein Modell der „Simulativen Demokratie“ favorisiert eine „kollektive Selbstillusionierung“ der postdemokratischen Gesellschaftskonstellation, die er als „Emanzipation zweiter Ordnung“ sozusagen am vorläufigen Ende der Geschichte angekommen sieht. Denn der von Luhmann’scher Systemtheorie stark beeinflusste Autor attestiert der Jetztzeit, das moderne Projekt der bürgerlichen Demokratien erfolgreich zu Ende gebracht zu haben, das er in der Emanzipation des politischen Subjekts des Bürgers und mithin des Bürgertums als hegemonialer Klasse sieht. Die Postdemokratie sei also nicht als Verfall sondern vielmehr als historischer Erfolg zu bewerten, den es vor allerlei drohender Unbill zu verteidigen gelte.
Verglichen mit der von Colin Crouch beschriebenen Post-Demokratie als Entleerung politischer Prozesse, der von Chantal Mouffe beschriebenen Einebnung politischer Unterschiede im Kampf um die so genannte Mitte und der u.a. von Jacques Rancière aufgemachten Unterscheidung zwischen der Politik als der eigentlichen Verhandlung menschlichen Zusammenlebens und der Polizei als dem Apparat, der die Maschine der modernen Gesellschaft administriert, erscheint die „Simulative Demokratie“ als affirmative Umkehrung einer kritischen Perspektive. Denn so scharf Blühdorns Analyse ist, so sehr spricht er aus der Perspektive des westlichen, christlich geprägten, weißen Bürgertums mit Zugang zu Bildung, Arbeit und Konsum, die Not der Have-Nots der globalen Gegenwart wie die Chancen einer entstehenden Weltgesellschaft hingegen scheint Blühdorn auszublenden oder als Gefahr zu sehen. Dies mag als Handreichung für den Politikbetrieb von Berlin bis Brüssel tatsächlich hilfreich und erhellend sein, als Beitrag auf einer Konferenz zum Verhältnis von Theater und Politik erschien der etwas im Stil eines Motivationstrainers gehaltene Vortrag nur bedingt passend, zumindest insofern sich das Theater in der Tradition einer kritischen Avantgarde begreift, wie sie für die Moderne vor ihrem „Post“ so wichtig war. Wo kritisch-avantgardistische Positionen in der Kunst spätestens seit Brecht und Duchamp die bürgerliche Illusionsmaschine herausforderten und den Kunstraum damit stets auch in den Dienst gesellschaftlicher und subjektiver Emanzipation stellten, da empfiehlt Blühdorn dem Theater, allenfalls Widersprüche aufzuzeigen und sich sonst vornehm zurück zu halten, um der Vereinnahmung durch das herrschende Regime zu entgehen – und die Desintegration nicht weiter anzuheizen. Sein „starker Begriff“ der Postdemokratie, den er vom „schwachen“, kritischen Verständnis ihres Erfinders abgrenzt, erscheint als scharfes Werkzeug zum Verständnis der gegenwärtigen Situation für Praktiker politischen Handelns, er hält für das Theater aber allenfalls eine Nebenrolle bereit, die das „unerschütterliche Commitment“ zum Status Quo nicht weiter stören kann. Und soll? ist man zuweilen versucht, hinzuzufügen.
Wie sehr das deutschsprachige Theater bis heute in jenem Bürgertum verankert ist, das Träger und Profiteur des von Blühdorn beschriebenen Status Quo ist, wurde auch an anderen Momenten der Tagung offensichtlich, so auch beim Vortrag von Nikita Dhawan. „Wir erleben vielleicht den gleichen Sturm, aber wir sitzen mitnichten in einem Boot“, war ihr „starker“ Satz mit dem sie den Teilnehmern die „critical whiteness“ der deutschsprachigen Theaterwelt vor Augen führte. Denn „globale Klassenunterschiede“ würden auf den Bühnen hierzulande allenfalls aus der mehrfach privilegierten Perspektive des weißen europäischen Bürgertums vorkommen – und auch im großen Saal des Deutschen Theaters waren während des Vortrags keine fünf Menschen „mit Migrationshintergrund“ anwesend, wie sich auf Nachfrage zeigte. Ihr stark von postkolonialer Theorie geprägter Vortrag rief zu einer „De-Subalternization“ der „Subalternen“ und damit eben zur Überwindung jener globalen Klassenunterschiede auf, die Menschen dazu bringen, ihr Leben auf der Flucht etwa über das Mittelmeer zu riskieren. Zentral sei hier, dass die globale „privilegierte Klasse lernt, ihre Privilegien zu teilen“, so die in Frankfurt lehrende Philosophin.
Nikita Dhawan blieb nicht die einzige, die internationalistisch und kritisch auf die Gegenwart und zugleich offen auf die Zukunft blickte. Der Vortrag von Florian Malzacher über Kunst als politisches und soziales Werkzeug war ein zweiter solcher Höhepunkt. Sein noch im Grazer Steirischen Herbst entwickeltes Projekt „Truth is concrete“ hat sich zwischenzeitlich fast zu einem Kompendium der zeitgenössischen darstellenden Kunst mit politischem Anspruch entwickelt, in der sich von den Yes Men bis zu Pussy Riot alles findet, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten den Mächtigen ins Gehege kam und den reibungslosen Lauf der Geschäfte störte.
Auch das Tischgespräch mit dem Graduiertenkolleg „Performing Citizenship“ trug spannende, neue Aspekte zur Tagung bei. Das Thema des interdisziplinären Forschungsprojektes ist „urbane Bürgerschaft in der Metropole des 21. Jahrhunderts“, erarbeitet werden Ausblicke auf künftige Formen des Gemeinsamen („Commons“) jenseits der Repräsentationslogik der bürgerlichen Demokratie. Ebenso Erwähnung finden sollte der Vortrag zum „Kapitalismustribunal“ des Haus Bartleby, der kontrovers aufgenommen wurde und gerade darum viel Anschauungsmaterial zum Potenzial politischer Stoffe bot. In besonderer Weise und jeweils unfreiwillig sichtbar wurden die zeitgenössischen Irrungen und Wirrungen rund um den Begriff des Politischen aber in ganz unterschiedlicher Weise bei zwei anderen Gelegenheiten: Da war einmal die Vorstellung der Arbeiten des Opernkollektivs Novoflot, einer freien Berliner Opernproduktion, die mit inhaltlich wie ästhetisch wegweisenden Produktionen versucht, den „immer schon affirmativen Charakter der Staatsoper“ („Oper ist Staatsoper“) emanzipativ zu wenden, deren Gründer Sven Holm die Gründe seiner Arbeit in der freien Szene aber ausgerechnet mit den neoliberalen Kernargumenten von „mehr Eigenverantwortung, flachen Hierarchien und Flexibilität“ beschrieb. Und da war die kurze Ansprache des Direktors des Deutschen Bühnenvereins Rolf Bolwin, der sich über einen Essay von Mark Terkessidis echauffierte, in dem dieser ähnlich wie Nikita Dhawan die Öffnung des deutschen Stadttheaters für die Realität der Migrationsgesellschaft gefordert hatte. Interessant war das, weil da ein selbst erklärter Linker stand, der Sparpolitik und Neoliberalismus geißelte – aber durchaus kein Verständnis für Terkessidis’ Forderung nach strukturellen Veränderungen im Stadttheater und letztlich nach einer „neuen Version von Wir“ aufbrachte. Während Sven Holm also kurz den doppelzüngigen Charakter des neoliberalen Freiheitsversprechens vergisst, bestätigt Bolwin unfreiwillig Terkessidis’ These vom Stadttheater als Trutzburg des deutschen Bildungsbürgertums. Beide Beispiele zeigen, wie tief sich politische Strukturen und Narrative ins kollektive Denken einschreiben und wie gründlich sie sich mit der Zeit verschieben können.
Was tun? Was treibt politisches Handeln in einer Situation, in der die Formulierung politischer Utopien nicht mehr vorstellbar erscheint, in der, um mit dem US-Philosophen Frederic Jameson zu sprechen, das Ende der Welt eher vorstellbar erscheint als das Ende des Kapitalismus? Die Berliner Tagung konnte und wollte keine Antworten auf diese epochale Frage liefern, sie ließ aber zwei zentrale, zum Teil gegenläufige Linien erkennen: Einerseits ist das deutschsprachige Theater tief im Bürgertum verankert, wo man sich zwar gerne bildungsbeflissen und weltoffen gibt, aber eben auch viel Wert auf deutsche Gemütlichkeit legt und offene Konflikte meist scheut. Die aus der deutschen Kleinstaaterei hervorgegangene Theaterwelt tut sich derzeit noch erkennbar schwer damit, in der Realität der Migrationsgesellschaft anzukommen. Auf der anderen Seite sieht man sich aber auch in der Tradition der Aufklärung und damit in Opposition gegen den Fürsten respektive die aktuell herrschende Macht. Daher gibt man sich gerne rebellisch und sympathisiert mit emanzipativen Ideen. Das Problem ist nur: Beide Linien haben mehr mit der eingangs beschriebenen Welt der 1950er- bis 1980er-Jahre als mit der Realität einer globalisierten Gegenwart zu tun, in der die Bedeutung des Nationalen und mit ihr auch die Konsenskultur der alten Bundesrepublik schwindet und die Macht einer nicht adressierbaren Ökonomie alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringt. Hinzu kommt die gegenwärtige Ratlosigkeit, der Mangel an utopischen politischen Narrativen, vom britischen Theoretiker Mark Fisher als depressiver „kapitalistischer Realismus“ bezeichnet.
Das Theater schiene in dieser Situation gut beraten, seine Scheu vor Konfrontation zu überwinden und sich der Gegenwart offensiver zu stellen, als dies aktuell oft geschieht. Die globale Realität ist unruhiger und konflikthafter, sie ist aber auch offener geworden. Sie benötigt eine Verständigung über sich selbst, ein genaueres und breiteres Verständnis der Gegenwart wie ein offenes Nachdenken über die Zukunft, sie benötigt in der Tat eine „neue Version von Wir“. Und sie benötigt Plattformen, die zum Erhalt oder gar zum erneuten Aufbau einer kritischen Öffentlichkeit beitragen. Das Theater kann eine solche Plattform sein, in der Antworten auf die Frage nach politischem Handeln gesucht werden. Nicht nur für jetzt – sondern auch für morgen.
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