Es braucht nicht viel, um in tiefe Empörung über den aktuellen Zustand der Welt zu verfallen. Von der weltweiten Kluft zwischen elender Armut und obszönem Wohlstand über die universale Bedrohung menschlichen Lebens durch den Klimawandel bis zur unverhohlenen Ablehnung demokratischer Strukturen und Entscheidungen zugunsten privater Profitinteressen lassen sich nahezu alle großen Krisen der Gegenwart auf eine Ursache zurückführen: Die Wirtschaftsordnung, die wir Kapitalismus nennen. Dieses System ist letztlich verantwortlich für menschenunwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen in weiten Teilen Asiens und Afrikas, für die Kriege im Nahen Osten und der arabischen Welt, für die organisierte Verarmung Südeuropas und für die fortschreitende soziale Spaltung und Destabilisierung jener Gesellschaften, die gegenwärtig noch als relativ stabil betrachtet werden können. Dieses System frisst sich mit zunehmendem Tempo in alle Bereiche menschlichen Lebens und in jeden Winkel der Welt, es besetzt unser Denken, es kolonisiert die Zukunft, es zerstört den Planeten – und wenn es am Ende sich selbst zerstört haben wird, könnte es zu spät sein. Es scheint also überfällig zu sein, mit diesem System abzurechnen, seine Akteure anzuklagen, Tribunal zu halten.
Doch was ist eigentlich Kapitalismus? Jenseits davon, dass es um eine Wirtschaftsordnung geht, die von mehr oder weniger unsichtbaren Händen betrieben wird, herrscht auch hier nur wenig Konsens. Der Kapitalismus ist gleichermaßen verbunden mit der Entstehung der Nationalstaaten wie mit der Globalisierung, mit der Zerstörung der Umwelt ebenso wie mit technologischer Erneuerung. Kapitalismus ist zugleich selbstregulierend, dynamisch, ungerecht und irrational, er macht scheinbar unvereinbare Widersprüche ebenso ökonomisch nutzbar wie schwere Krisen, er ist auf Wachstum angewiesen und geht zugleich am Wachstumsparadigma zugrunde, er ist Chaos und Ordnung zugleich und beschäftigt Ökonomen, Sozialwissenschaftler, Historiker und Philosophen seit nunmehr fast 200 Jahren. Folgt man dem ungarisch-britischen Theoretiker Karl Polanyi, so hat die Gesamtheit dessen, was wir heute Kapitalismus nennen, über die letzten 200-300 Jahre zu einer radikalen Umwälzung und völligen Neuordnung des gesellschaftlichen und kulturellen Gefüges geführt. Diese „Große Transformation“ reichte von den vorkapitalistischen feudalen Strukturen, in denen der Markt Teil der Gesellschaft war, bis zur heutigen spätkapitalistischen Ordnung, in der die Gesellschaft ein Anhängsel des Marktes geworden ist – und sie ist bei genauerer Betrachtung keineswegs beendet. Sie setzt sich vielmehr fort im jüngst etwa von Joseph Vogl beschriebenen Übergang der souveränen Macht der Nationalstaaten auf global agierende Konzerne, sie ist zu finden in den tiefgreifenden Folgen, die die weiter fortschreitende Digitalisierung nach sich zieht und sie hinterlässt ihre Spuren in den mit den zeitgenössischen Wandlungsprozessen verbundenen Subjektivierungsprozessen etwa beim Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, wie sie von Michel Foucault oder Gilles Deleuze beschrieben wurde. Mit einer sich fortsetzenden „Großen Transformation“ schreibt sich der Kapitalismus immer tiefer in zahllose Verästelungen der Gegenwart ein, er erscheint als moderner Leviathan, der sich im Unterschied zu seinem von Thomas Hobbes beschriebenen Urahn längst als hybrides ort- und körperloses globales Ungeheuer jenseits staatlicher Ordnungen etabliert hat.
So notwendig Widerstand und so einleuchtend eine Anklage auch erscheint, so schwierig erscheint daher die Frage, wo angesetzt werden soll und kann. Welcher der unzähligen moralischen Skandale der Gegenwart soll eigentlich wem angelastet werden? Wer steht vor Gericht, wenn der Kapitalismus angeklagt wird? Lässt dieser sich mit einem schlichten „j’accuse“ überlisten oder ist Gegenwehr zu erwarten? Und ist überhaupt der Kapitalismus für die zeitgenössische Megakrise verantwortlich – oder ist es doch der Verfall der Werte, die Gier, das Zinssystem, die Religion im Allgemeinen, die Geheimdienste, die Juden, die „Chemtrails“?
Zwei zentrale Schlüsse liegen nahe: Erstens scheinen angesichts der empfundenen Ohnmacht gegenüber dem vermeintlich alternativlosen und schwer adressierbaren globalen Regime immer mehr Menschen den kapitalistischen Wald vor lauter chauvinistischen, autoritären oder gar völkischen Bäumen nicht mehr zu sehen. Während hysterische Diskussionen um „Überfremdung“ oder „Islamisierung“ kreisen und die europäische Nachkriegsordnung wegen der Zuwanderung einiger Hunderttausend Kriegsflüchtlinge ernsthaft ins Wanken zu geraten scheint, werden internationale Großbanken mit zwei- bis dreistelligen Milliardenbeträgen gerettet, ohne dass es nennenswerten Widerstand gäbe. Zwischen Querfront und verschiedenen Verschwörungstheorien muss einmal mehr mit einer Abwandlung des berühmten Zitats von Max Horkheimer konstatiert werden, dass, wer vom Kapitalismus reden will, vom Faschismus und seinen verschiedenen Spielarten und Erscheinungsformen nicht schweigen darf. Zweitens kommt eine zeitgenössische emanzipative Perspektive nicht an der Einsicht vorbei, dass, wer vom Kapitalismus reden will, kaum vom ganzen Rest der genannten „Großen Transformation“, von der europäischen Geschichte der letzten 300 Jahre und der Rolle Europas in der Welt schweigen kann. Menschenrechte, Aufklärung und wissenschaftlicher Fortschritt haben demnach immer eine dunkle historische Kehrseite aus Ausbeutung, Unterdrückung, Rassismus, Sexismus, Klassismus, Kolonialismus und sonstigen repressiven Machtverhältnissen.
Damit wird eine Anklage des Kapitalismus auch zur Anklage einer westlichen Kultur, in der Markt und Gesellschaft untrennbar eng miteinander verwoben sind. Eine Anklage des Kapitalismus kann daher auch weniger auf die isolierte Überwindung dieses zeitgenössischen kapitalistischen Regimes als vielmehr auf eine zweite „Große Transformation“ zielen, die weg von der gegenwärtigen Marktgesellschaft führt. Fluchtpunkt einer solchen zweiten „Großen Transformation“ wäre eine „kommende Gemeinschaft“ (Giorgio Agamben), deren Subjekt sich nicht durch Markt, Volk oder die genannten Komplementärerscheinungen sondern durch eine offene Menge (die Multitude) konstituiert, die keine Voraussetzung oder Bedingung der Zugehörigkeit stellt und auch sonst nach nicht-repressiven Kriterien organisiert ist.
Einstweilen sieht es eher danach aus, als wenn die erste Große Transformation noch keineswegs abgeschlossen ist, als wenn der Markt vielmehr seine Kräfte für einen Generalangriff auf die wenigen verbliebenen Felder des gesellschaftlichen Lebens sammelt, die noch nicht vollständig vereinnahmt sind. Wo Politiker von „marktkonformer Demokratie“ sprechen, wo die Intensität und Taktung der unterschiedlichen Krisen das Maß des Beherrschbaren immer öfter zu überschreiten droht, wo mittels unvorstellbarer Schuldenberge selbst die Zukunft kolonisiert ist, da scheint eine Überwindung der marktförmigen Gesellschaft jenseits des Vorstellbaren zu liegen. Zugleich ist der Tag stets am nächsten, wenn die Nacht am tiefsten ist. Die panischen Selbsterhaltungs- und Verteidigungsmaßnahmen der gegenwärtigen Ordnung von Bankenrettungen bis zur Anrufung nationalistischer, rassistischer und sonstiger vernebelnder Narrative lassen ebenso wie die gehäuft auftretenden Angriffe auf demokratische Strukturen und von der Gesellschaft getragene Einrichtungen eine ausgeprägte Nervosität in den Chefetagen von Politik und Wirtschaft vermuten. Hinzu kommt, dass die technologische Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht nur gewaltige Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle bereithält, sondern auch ein globales Bewusstsein schafft, dass die skandalösen globalen Unterschiede nicht mehr ohne weiteres ausblenden kann. Die digitalisierte Welt ist kleiner geworden.
Eine Anklage des Kapitalismus bedeutet also nicht nur, die Gegenwart und die Geschichte des so genannten Westens anzuklagen, wer den Kapitalismus anklagt, sollte auch bereit sein für die mit seinem Ende vermutlich verbundene gesellschaftliche Transformation. Wo die erste Große Transformation von der ständisch-rural strukturierten Gesellschaft hin zur industrialisierten, urbanen Marktgesellschaft führte, mag eine zweite Transformation von diesem Ausmaß die für die Moderne konstitutiven Unterscheidungslinien abbauen: Von der Zugehörigkeit zu Volk und Nation über Erwerbsarbeit und Privateigentum bis zur Unterscheidung zwischen Natur und Kultur ist eine grundlegende Neubestimmung der kulturellen und gesellschaftlichen Grundlagen in einer „kommenden Gemeinschaft“ zu erwarten. Einige Elemente dieser Neubestimmung sind heute schon zu sehen. Eine scharf geführte Anklage des Kapitalismus mag dazu beitragen, andere sichtbar werden zu lassen.
Dieser Beitrag ist erschienen in „Das Kapitalismustribunal“, Passagen Verlag, Wien 2016