Die große Entleerung

Das Athener Epidaurus-Festival versucht, die Krise zu ignorieren

Erinnert sich noch jemand an die Krise in Griechenland? Vor den Diskussionen um Burkini, AfD, Geflüchtete, Terrorismus und Hamsterkäufen, vor dem Putsch in der Türkei und vor dem Brexit – da gab es mal den Grexit. Unter diesem Begriff wurde diskutiert, ob die vermeintlichen »Pleitegriechen« (»Bild«), die die rechtschaffenen Deutschen um ihr sauer Erspartes bringen wollten, zur Strafe aus der gemeinsamen europäischen Währung fliegen sollten wie Schulkinder, die ihre »Hausaufgaben« nicht gemacht hätten.

Deutlich seltener wurden auch die Kredite deutscher und französischer Banken an die Athener Regierung oder die profitablen Deals großer deutscher Konzerne in Griechenland verhandelt, die im Zuge der Krise durchgesetzt wurden. Und noch seltener ging es darum, was die von Berlin und Brüssel diktierten Kürzungsorgien in der griechischen Gesellschaft anrichten, nicht nur in den Bereichen Bildung, Gesundheit oder Soziales, sondern auch im kulturellen Leben, wo in den vergangenen Jahren die auch früher nicht eben üppige Förderung landesweit vollständig gestrichen wurde. Mit einer Ausnahme: Das 1955 gegründete »Athens & Epidaurus Festival«, sommerlicher Höhepunkt des Athener Kulturlebens und gegenwärtig die einzige kulturelle Institution im Land, die überhaupt noch öffentliche Gelder erhält.

Grund genug, Athen und dem Festival einen Besuch abzustatten. Schließlich ist Griechenland in den letzten Jahren auf seltsame Art hip geworden: Je dramatischer erst die Krise des Finanzsystems und später der Europäischen Union erschien, je schlimmer die Lage in Griechenland wurde, umso mehr wurde das Land zu einer Art Projektionsfläche für linke Intellektuelle, zu einem Labor der Postdemokratie, in dem knallharte Neoliberale ebenso wie kompromisslose Linke ihre feuchten Träume Wirklichkeit werden sahen.

Nirgendwo wurde so konsequent im Interesse des europäischen, deutschen und französischen Großkapitals gehandelt wie im Fall der griechischen Staatsschuldenkrise, nirgendwo sonst gab es so vielfältigen sichtbaren und unsichtbaren Widerstand dagegen, nirgendwo erschien die Erwartung berechtigter, dass der neoliberalen Hegemonie starke fortschrittliche Impulse entgegengesetzt würden, wenn schon nicht aus der Politik, dann doch wenigstens aus der Kultur.

Auf der Suche nach solchen Impulsen pilgerten in den vergangenen Jahren also Journalisten nach Athen, wurden griechische Künstler und Aktivisten auf unzählige Podien von Wien bis Berlin eingeladen und zahlreiche mehr oder weniger kluge Texte zum Thema veröffentlicht. Es gab und gibt Projekte wie die 2016 zum ersten Mal ausgerichtete Athener »Performance Biennial«, die sich unter der Überschrift »No Future« ausdrücklich mit Krise, Verschuldung und den resultierenden gesellschaftlichen Folgen auseinandersetzt, es gibt selbst organisierte Kinos, Sprachkurse für Geflüchtete, Kunstworkshops für Mittellose und Solidaritätspartys für die unterschiedlichsten Vorhaben.

Nicht zuletzt das deutsche Kunstereignis schlechthin, die 2017 stattfindende vierzehnte Ausgabe der Documenta, wird nicht nur in Kassel, sondern auch in Athen vermutlich mit einer ähnlichen Idee ausgerichtet: der Krise in ihrem vermeintlichen Epizentrum auf den Grund zu gehen.

Doch im Auge des Sturms herrscht bekanntlich Ruhe, zumindest, was das diesjährige Epidaurus-Festival angeht. Publikum, Künstler und Festivalmacher in Griechenland scheinen sich gleichermaßen in einer Art Schockstarre zu befinden, wie es eine Mitarbeiterin des Festivals nach einer Vorstellung in der Athener Kunsthochschule schildert. Für viele seien seit der Krise, die verbreitet zu massiven Lohnsenkungen führte, schon Eintrittspreise von zwölf Euro zu hoch, von der Fahrt ins rund 100 Kilometer von Athen entfernte Epidaurus mit seinem riesigen antiken Amphitheater gar nicht zu reden, die Besucherzahlen seien alles andere als gut. Doch es geht nicht nur ums Geld. Das Programm des diesjährigen Festivals weiß von einer Krise allenfalls im Kleingedruckten und scheint sich auf eine Art elaborierter Pflege des zweifelsohne reichen kulturellen Erbes zu konzentrieren: Jede zweite Produktion arbeitet sich vor allem am antiken Repertoire ab, aktuelle Bezüge oder Kritik an der Gegenwart sind nur vereinzelt zu finden.

Das mag in diesem Jahr auch daran liegen, dass es zuletzt erheblichen Wirbel um den belgischen Bühnenkünstler Jan Fabre als neu berufenen Direktor gegeben hatte, der fast nur belgische, eigene und jedenfalls keine griechischen Produktionen eingeladen hatte, was nicht nur zu massivem Widerstand in der lokalen Theaterszene, sondern auch zur Neubesetzung der Personalie Fabre und extrem kurzen Vorbereitungszeiten für das Festival führte. Es mag auch daran liegen, dass die Krise für einen Großteil der griechischen Kulturschaffenden eher eine Frage des Überlebens als eine inhaltliche Herausforderung ist, weswegen Insider von massiven Verteilungskämpfen im Hintergrund berichten.

Vor allem hat die relative Beliebigkeit des Programms aber mit etwas anderem zu tun: Mit dem Auge des mitteleuropäischen Betrachters, der sich, wie bereits geschildert, aufregende, neue Impulse zur alternativlosen Gegenwart, zum Austeritätsregime oder zum Thema Schuld und Schulden erhofft hatte. Dass diese ausbleiben, deutet nicht nur auf falsche Erwartungen hin, sondern darauf, dass unter dem Merkelschen Austeritätsregime in Griechenland eine Art Normalität einkehrt. Und das ist wohl die schlechteste Nachricht vom diesjährigen Epidaurus-Festival.

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