„Das Verändern verändern“

Rahel Jaeggi im Gespräch mit Lukas Franke über Fortschritt im Zeitalter der Polykrise, Geschichtsphilosophie und Zukunftsoptimismus. 

Frau Jaeggi, die Idee des Fortschritts war lange Zeit eng verbunden mit Begriffen wie Aufklärung und Emanzipation. Wie steht es um den Fortschritt heute?

Dass die Geschichte eine unaufhaltsame Bewegung zum Glück und zur Freiheit sei, das glaubt heute vermutlich niemand mehr. Fortschrittspessimisten und Zweifler gab es in der Geschichte aber schon sehr früh, auch in Zeiten relativ ungebrochener Fortschrittseuphorie. Spätestens seit den 1970er-Jahren, als auch die ökologische Krise erstmals breit ins öffentliche Bewusstsein rückte, hat sich jedoch grundlegend etwas verändert. Dass Fortschritte in der Naturbeherrschung eine dunkle Kehrseite haben und sich zerstörerisch nicht nur gegen die Natur, sondern gegen den Menschen richten, war übrigens auch in der Kritischen Theorie schon früh Thema. 

Ist der Begriff des Fortschritts darum heute diskreditiert?

Ja, in vielen intellektuellen Milieus scheint das der Fall zu sein. Die zeitgenössische Kritik am Fortschrittsbegriff steht zunächst in engem Zusammenhang mit seiner Geschichte, die auch eine Geschichte von Gewalt und kolonialer Unterwerfung ist, und mit der Anerkennung der Tatsache, dass die westlich-europäische Auffassung von Fortschritt die Weltgeschichte auf einen bestimmten Entwicklungspfad festlegt und alle, die daran nicht teilhaben, in den „Wartesaal der Geschichte“ verbannt, wie das der indische Historiker Dipesh Chakrabarty genannt hat. Doch es hat sich noch etwas anderes verändert. Der britische Soziologe Steven Lukes hat von einer „unzerbrechlichen Kette“ gesprochen, in der die technisch-wissenschaftlichen und die sozialen und moralischen Elemente des Fortschritts unlösbar verbunden waren und die Entwicklung mithin stets eine Dynamik zum Besseren war. Diese unzerbrechliche Kette ist letztlich doch zerbrochen.  Technologische und soziale Momente des Fortschritts werden heute meist gelöst voneinander betrachtet. Damit ist aber ein grundlegendes Versprechen der Moderne gebrochen.

Dass uns die Abwesenheit von Fortschritt so bedrohlich erscheint, ließe den umgekehrten Schluss zu, wir seien in der Moderne zum Fortschritt verdammt. 

Es wird oft vergessen, dass die Fortschrittseuphorie der klassischen Moderne die Vorgeschichte unserer heutigen Fortschrittskritik ist. Man muss insofern aufpassen, dass Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Dinge passieren nicht einfach kontingent, es gibt Abfolgen, Entwicklungen, Dynamiken, Spannungsverhältnisse und Widersprüche, die zu Krisen führen. Das bedeutet nicht, eine deterministische Auffassung von Entwicklung zu vertreten, die zwangsläufig zur liberalen Demokratie, zum Kommunismus oder sonst wo hinführe. Aber wir können aus der eigenen Geschichte nicht so einfach austreten, auch aus einer bestimmten Vorstellung, wie wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander ins Verhältnis setzen, nicht. Wenn wir also irgendeine begründende Erzählung suchen, warum soziale Institutionen und Praktiken sich transformieren, sich transformieren sollen, warum sie erodieren, in Krisen geraten, zu Grunde gehen und anderen Strukturen Platz machen müssen, dann verfolgen wir eine Art von Fortschrittserzählung, sei sie auch noch so gebrochen. 

Geht es also darum, den Fortschrittsbegriff zu retten?

Der Fortschrittsbegriff zählt zu den zentralen Begriffen der Moderne, in denen Analyse und Beschreibung des Gegebenen mit seiner Kritik eng verbunden sind. Noch deutlicher wird dies beim Begriff der Regression. Wenn ich etwa sage, Faschismus ist Regression, dann geht es um viel mehr, als dass dieser moralisch verwerflich ist. Es geht um Fortschritt und Regression als Analysekategorien für eine kritische Gesellschaftstheorie. In diesem Sinne sollten wir beide Begriffe nicht einfach wegwerfen 

Keine Geschichtsphilosophie ist auch keine Lösung, heißt es in Ihrem Buch. Sind wir Subjekt unserer eigenen Geschichte?

Wir sind allenfalls Co-Autorinnen unserer Geschichte. Wir greifen neben und mit vielen anderen Akteurinnen in etwas ein, das von nicht planbaren Eigendynamiken gekennzeichnet und dennoch immer auch ein Resultat menschlichen Handelns ist. Die Geschichte macht sich in gewisser Weise selbst, aber wir sind trotzdem ein Teil davon. Was wir machen, ist das Verändern zu verändern. Und dennoch würde ich noch immer unterschreiben: Es geht darum, dass Menschen ihr Zusammenleben im Modus der Selbstbestimmung gestalten können. 

Fortschritt geht einher mit einem Wandel der Lebensformen, schreiben Sie. 

Wir haben schon von der unzerbrechlichen Kette gesprochen, die zwar nicht mehr in der alten Form hält, ihre einzelnen Elemente und Glieder wirken aber dennoch wechselseitig aufeinander ein. Mich interessieren diese Ensembles sozialer Praktiken und Institutionen als Wechselverhältnisse, die Gesellschafts- und Lebensformen nicht nur verändern, sondern auch neu hervorbringen. Wenn die Dampfmaschine die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hat – was machen dann Technologien wie die so genannte künstliche Intelligenz mit uns?

Gibt es Probleme, die zu groß sind, als dass sie gesellschaftlich gelöst werden können? 

Ich weiß es nicht. Aber ich glaube es wäre ein Fehler, im Angesicht der großen Probleme der Gegenwart alles über Bord zu werfen, was darüber hinaus geht, nur das Überleben zu sichern, sich etwa nur noch um Anpassung zu bemühen. Die Vorstellung aufzugeben, dass es besser werden könnte, wäre eine Blockade Fehler gesellschaftlicher Selbstverständigung. Hannah Arendt hat gesagt: „Man überlebt nie nackt.“ Man wird die großen, apokalyptischen Gefahren nicht bannen, wenn man nicht auf mehr zielt als das nackte Überleben. Ich glaube zudem, dass viele soziale Bewegungen und Initiativen, auch diejenigen, die auf den ersten Blick nur damir beschäftigt sind, die Katastrophe zu verhindern  immer noch Vorstellungen von einem besseren Leben sozusagen Huckepack tragen. Ohne diese Vorstellungen würde wohl niemand mehr für irgendeine Zukunft kämpfen. 

Haben Sie noch Zukunftsoptimismus?

Das schwankt von Tag zu Tag. Es ist nicht so, dass ich gar keine Vorstellung davon hätte, es könnte eine Entwicklung hin zum Besseren geben. Wenn wir die Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, in ihrer Logik weiter denken und es nicht gelingt, diese schnell und ernsthaft zu bekämpfen, dann wird die jetzt heranwachsende Generation ein deutlich kompliziertes Leben haben, als wir es gegenwärtig haben. Ich sehe also eine große regressive Bedrohung. Auf der anderen Seite wäre meine Diagnose deutlich düsterer ohne Ereignisse die die massenhaften Kundgebungen gegen die AfD, die wir aktuell erleben. Dass die Zivilgesellschaft so breit mobilisierbar ist, stimmt mich dann doch optimistisch.  

Rahel Jaeggi ist Professorin für Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet dort seit 2018 das Centre for Social Critique. Zuletzt erschien von ihr „Fortschritt und Regression“ im Suhrkamp Verlag