Die dreieinhalbte Walpurgisnacht

Zu den (inzwischen zurückgezogenen) Einladungen von AfD-„Hausphilosoph“ Marc Jongen an das Züricher Theaterhaus Gessnerallee und von Götz Kubitschek an das Theater Magdeburg

Achtsamkeit ist gegenwärtig ja im Trend – und in der Tat könnte historische und politische Achtsamkeit viel zum besseren Verständnis der Entwicklungen in den letzten Monaten und Jahren beitragen. Zum Beispiel so: Die liberalen Demokratien des Westens folgen seit mindestens zwei Jahrzehnten überwiegend neoliberalen Politikkonzepten, was folgerichtig zu ungehemmtem Kapitalismus führt. Eine Ordnung, in der das Recht des Stärkeren gilt und in der es die Tendenz zu immer stärkerer Konzentration und immer weiterer Ausdehnung gibt. Am oberen Rand explodieren die Vermögen, während es für das untere Drittel der Gesellschaft seit Jahrzehnten in fast allen Bereichen des Lebens nur schlechter wird oder bestenfalls stagniert. Grundiert wird dieses Verhältnis von einem verbreiteten Gefühl allgemeiner Überforderung, bedingt durch Globalisierung und rasenden kulturellen und technologischen Wandel. Das lässt die gesellschaftlichen Widersprüche und Spannungen schließlich so groß werden, dass Krisengewinnler wie die AfD, Marine Le Pen oder Donald Trump mit offensichtlich falschen Versprechen fette Beute machen können. Womit das Unheil erst so richtig Fahrt aufnimmt. Historisch achtsamen Beobachtern muss auffallen, wie sehr das in seinen Grundzügen an die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und den Aufstieg der Nazis erinnert.

Während diese fatale politische Entwicklung also ihren Lauf nimmt, diskutieren damals wie heute die Linksliberalen mit den Liberalen mit den Bürgern mit den Linken – und sie streiten sich nicht nur, ob es vielleicht ihre eigene „elitäre“ Arroganz gegenüber den Anhängern der Krisengewinnler sein könnte, die Schuld am Desaster trage, einige von ihnen verfallen auch auf die Idee, man müsse mit denen nur mal reden, dann würden sie entweder von selbst vernünftig – oder flugs „entzaubert“. Einige dieser Zauberkünstler arbeiten derzeit am Theater in Magdeburg, wohin man vor einigen Wochen den radikal-völkischen Publizisten Götz Kubitschek einlud, um mit ihm über die Gründe für den Rechtsruck zu sprechen. Andere sind am Theaterhaus Gessnerallee in Zürich tätig, wo eine Veranstaltung mit AfD-„Hausphilosoph“ Marc Jongen auch noch als „Neue Avantgarde“ angekündigt wurde.

Um entsprechenden Zwischenrufen zu entgegnen: Nein, es geht hier nicht um irgendwelche Sprechverbote oder „ideologische Scheuklappen“, wie man sie etwa in Zürich ablegen wollte. Und natürlich gilt die Freiheit als Freiheit der Andersdenkenden auch für Jongen oder Kubitschek, die von der bäuerlichen Volksgemeinschaft (Kubitschek) oder von Geflüchteten als „Aggressoren“ (Jongen), von „Umvolkung“, „Überfremdung“ und „Lügenpresse“ schwafeln dürfen, so lange sie wollen. Aber die Ergüsse dieser Herren und ihrer Verwandten im Geiste sind und bleiben neofaschistischer Unsinn – der durch zusätzliche öffentliche Präsenz aufgewertet und normalisiert wird. Wer über „Umvolkung“ diskutiert, der lässt sowohl den Begriff wie die damit verbundene Behauptung letztlich als Möglichkeit zu, ganz gleich, in welchem Zusammenhang dies stattfindet. Experten nennen das „Framing“. Etwas mehr historische und politische Achtsamkeit in der künstlerischen Leitung der Gessnerallee würde dies nicht nur anerkennen, sie würde sich auch nicht zu der Behauptung versteigen, die Diskussion mit einem reaktionären Philosophen, dem jede intellektuelle und wissenschaftliche Redlichkeit abhandengekommen ist, sei als Auseinandersetzung jenseits der „jeweils eigenen Milieus“ zu verstehen, die spätestens seit Didier Eribons Buch „Rückkehr nach Reims“ nicht nur in Zürich gesucht wird.

Dass die Veranstaltungen in Magdeburg und Zürich schließlich mit mäßig überzeugenden Begründungen („Sicherheit!“) abgesagt wurden, verstärkt den Eindruck einer politisch indifferenten und historisch unachtsamen Haltung bei den Verantwortlichen, die abermals an die 1920er- und 30er-Jahre erinnert. „Vertrauen wir! Stören wir und komplizieren wir nicht“, soll Gerhart Hauptmann die „Machtergreifung“ Hitlers kommentiert haben. „Und ich soll mich in das Problem vertiefen, ob sich die ungeheure Erfüllung des Gebots ‚Deutschland erwache!’ so reibungslos vollzogen hätte, wenn ihm nicht die einfachere Weisung ‚Juda verrecke!’ angeschlossen und unmittelbar befolgt worden wäre!“, setzte Karl Kraus ebenfalls 1933 in seinem Essay „Die Dritte Walpurgisnacht“ entgegen. Es kann nicht schaden, sich gelegentlich an die Diskussionen dieser Zeit zu erinnern.

http://www.theaterderzeit.de/2017/04/35084/