Foucault kam zum Sonnenbaden nach Tunis, Bourdieu diente in der algerischen Armee. Der Historiker Onur Erdur erkundet die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie.
Man kann sich die Zeit der klassischen Moderne als eine Zeit ideologischer Erstarrungen vorstellen. Männer trugen Anzug und Hut, Frauen hatten sich zurückzuhalten, Ein- und Unterordnung ging vor individueller Selbstbestimmung. Zur intellektuellen Grundausstattung zählten bis in die 1950er-Jahre der europäische Glaube an die eigene Überlegenheit, die Autonomie des (weißen, männlichen) Subjekts, stetiger, vor allem technischer Fortschritt als Grundversprechen und ganz allgemein eine mechanistische Rationalität als Schlüssel zum Verständnis der Welt.
Es dürfte zu den großen Verdiensten der französischen Philosophie von der Nachkriegszeit bis in die 1990er-Jahre zählen, diese modernen Erstarrungen europäisch-westlichen Denkens gelöst und seine ideengeschichtlichen Kontexte und dunklen Flecken ausgeleuchtet zu haben. Dass die Theorien der Differenz und der Dekonstruktion, die Analysen der Macht und der Ambivalenzen des Selbst nicht in Pariser Cafés und Salons entstanden, sondern vom Leben an der Peripherie des zerfallenden französischen Kolonialreiches inspiriert wurden, wo die Brüche und Inkonsistenzen Europas unmittelbar sichtbar wurden, verwundert aus heutiger Sicht eigentlich kaum. Dennoch wurden die engen Verbindungen der postmodernen Philosophinnen und Philosophen mit den von Frankreich kolonisierten Ländern Nordafrikas bislang kaum thematisiert. Das Buch „Schule des Südens“ des an der Berliner Humboldt-Universität lehrenden Historikers Onur Erdur holt das nun nach – und berührt damit zentrale Punkte gegenwärtiger identitätspolitischer Debatten, die ohne die „French Theory“ kaum denkbar erscheinen.
Der vor einigen Wochen bei Matthes & Seitz erschienene Band handelt von den Aufenthalten französischer Intellektueller in Marokko, in Tunesien und insbesondere in Algerien in den 1950er- und 1960er-Jahren und davon, wie diese das jeweilige Denken und Werk beeinflusst haben. Erdur beschreibt, wie Pierre Bourdieu als junger Armeeangehöriger im Algerienkrieg vom kolonialen Unrecht erschüttert ist. Dort beginnen seine systematischen soziologischen Beobachtungen etwa der „paysans empaysannés“, der „entwurzelten Bauern“ der früheren Stammesgesellschaften Algeriens, die in der ihnen aufgezwungenen europäisierten Gesellschaftsordnung weder Platz noch Halt finden konnten. Jahre später entwickelt Bourdieu auf dieser Grundlage seine Theorien des Habitus und des sozialen Kapitals, die ihn berühmt machen sollten. Erdur schildert Jean-Francois Lyotards gewaltige Desillusionierung in seiner Zeit als Lehrer in Algerien. Wie Bourdieu ist auch er schockiert von der Brutalität der „Zivilisierungsmission“ der Kolonialmacht und schließt sich marxistischen Widerstandsgruppen an, die den algerischen Befreiungskampf unterstützen wollen. Schnell findet er sich in unauflösbaren Widersprüchen wieder, denn die politische Situation in Algerien, das rasch von einer neuen Führungsschicht dominiert wird, hat wenig mit der marxistischen Vorstellung der Befreiung der Arbeiter und Bauern und mit dialektischem Materialismus zu tun. Für Lyotard eine „hoffnungslose Widersprüchlichkeit“, der mit dogmatisch erstarrter Ideologie nicht beizukommen war und die zur Grundlage für sein späteres „Ende der großen Erzählungen“ werden sollte, wie Erdur es beschreibt. Das Buch erzählt auch, wie Roland Barthes in Marokko und Michel Foucault in Tunesien die Privilegien des Lebens als Europäer genossen und hedonistischen Neigungen und sexuellen Vorlieben nachgingen, ohne sich zur kolonialen Situation mit ihren großen Ungleichgewichten und Ungerechtigkeiten zu äußern. Erst später, so Erdur, der beide Autoren gegen mögliche Vorwürfe fast in Schutz zu nehmen scheint, fanden kritische Reflektionen zu Kolonialismus und Repression mehr oder weniger direkt Eingang in ihre Werke und Aktivitäten. Weitere Kapitel sind jeweils Jacques Derrida, Hélène Cixous, Etienne Balibar und Jacques Rancière gewidmet.
Die Lektüre ist auch ohne allzu viel Vorkenntnisse lehrreich und erzählt die 1950er- und 1960er-Jahre als eine Phase von Umbruch und Unruhe in Frankreich, Nordafrika und der gesamten kolonisierten Welt, die in Deutschland relativ unbekannt ist. Onur Erdur gelingt ein großer Bogen, der die einzelnen Biografien mit ihren Theorien ebenso lebendig in Verbindung bringt wie mit der zeitgeschichtlichen Situation, ohne jedoch ihre philosophische Bedeutung an ihre Entstehung oder ihren Kontext zu koppeln. Im Gegenteil: Insbesondere Erdurs Darstellung der Lebenswege von Hélène Cixous und Jacques Derrida zeigt, wie beide als algerische Juden zwischen allen Stühlen sitzen. Sie lehnen die Kolonialpolitik Frankreichs klar ab, werden von der Kolonialmacht aber bevorzugt behandelt und genießen seit 1870 die volle französische Staatsangehörigkeit. 1940 wurden ihnen diese vom faschistischen Vichy-Regime aberkannt, Cixous und Derrida werden plötzlich Staatenlose, die als Juden in einem arabischen Umfeld zusätzlichen antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt sind. Zugleich fühlen sie sich der französischen Sprache und Kultur eng verbunden, enger jedenfalls als der französischen Nation. So richtig gehören sie nirgendwo hin, Derrida wird mit Bezug auf diese Zeit später von einer „Störung der Identität“ sprechen.
Bei Onur Erdur gründen die Theorien nicht nur in den Biografien, sie bestätigen sich auch dort. Die Protagonistinnen und Protagonisten der „Schule des Südens“ zeigen in jeweils ihrem Gebiet: Wissen und Rationalität sind relational. Es geht nicht mehr ums Sein, sondern um das Werden. Früher als gegeben hingenommene Bestimmungen und Zugehörigkeiten erweisen sich als konstruiert oder als historisch gewachsen und damit letztlich als kontingent. Das hat nichts zu tun mit Beliebigkeit, die der Postmoderne gerne zugeschrieben wird. Erdur zeigt, wie in der „French Theory“ mit erstarrten Gewissheiten und A Priori gerungen und nach neuen Zugängen gesucht wird, um die Ungleichzeitigkeiten und Ambivalenzen einer beschleunigten Moderne zu beschreiben. „Alles, was ich weiß, ist, dass die Welt mehr als eine Welt ist. Seit ich laufen kann, weiß ich, dass die Welt aus zwei Welten besteht. Es gab zwei Welten plus zwei Welten plus zwei Welten“, bringt es Cixous später auf den Punkt.
„Schule des Südens“ ist ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit. Es legt elegant und überzeugend dar, wie die Philosophinnen und Philosophen der Postmoderne und der Dekonstruktion die ideologischen und intellektuellen Verhärtungen ihrer Zeit aufgebrochen haben. Es zeigt, wie in den kolonisierten Ländern des Maghreb einige Grundlagen für die Theoretikerinnen und Theoretiker des Postkolonialismus gelegt wurden, die später zeigten, wie tief rassistische und essentialistische Stereotype im Denken und in der Kultur des Westens verwurzelt sind. Es überführt damit auch die Attacken rechter und linker Kulturkämpfer als Unsinn, die die Postmoderne für alles verantwortlich machen, was nicht in das jeweilige binäre Weltbild passt, von Gender Studies bis zu „Wokeness“ und „Cancel Culture“. Onur Erdur gelingt nicht nur ein überzeugendes Plädoyer für die philosophischen und ideengeschichtlichen Leistungen der „French Theory“, er zeigt überdies auf, wie sehr in den identitätspolitischen Debatten der Gegenwart neuerliche Erstarrungen drohen, die eigentlich schon für überwunden gehalten wurden.