Die Darstellung der Welt ist stets heikel, weil sie immer auch politisch ist. Der Geohistoriker Christian Grataloup zeigt in seinem neuen Atlas, wie es dennoch geht.
Karten sind nie nur neutrale, nützliche Darstellungen zum räumlichen Verständnis und zur besseren Orientierung, sondern immer auch ästhetische und politische Interventionen. Der geometrisch-grafischen Darstellung des Raums ist oft Ausdruck von Machtverhältnissen und gesellschaftlich-kultureller Prägungen. Die bis heute geläufige Darstellung der Welt etwa, die sogenannte Mercator-Projektion des flämischen Renaissancegelehrten und Kartographen Gerhard Mercator aus dem Jahr 1569, hat gegenüber früheren Karten zahlreiche Vorteile unter anderem für die nautische Navigation, weswegen sie bis heute angewandt wird. Ihre Abbildung der Welt spiegelt zugleich aber das christliche und eurozentrische Weltbild seiner Epoche wider, in dem Europa stets Mittelpunkt der Welt war.
Mercator verwendete seinerzeit auch erstmals den Begriff des Atlas, der im 16. und 17. Jahrhundert auch als „Theatrum orbis terrarum“, als Theater der Welt, bezeichnet wurden. Als Kompendium des Weltwissens am Übergang zur Moderne hatten sie den nicht eben geringen Anspruch, „die Erschaffung und Konstruktion der Welt“ zu erklären. Damals mussten bei einem so ambitionierten Vorhaben eher Religion und Naturwissenschaften miteinander versöhnt als politische Debatten etwa über postkoloniale Fragen berücksichtigt werden, die rein europäische Perspektive blieb unhinterfragt, ebenso wie der koloniale Blick auf nicht-europäische Weltregionen und der Glaube an den Auftrag und das Recht der Menschheit zur uneingeschränkten Naturbeherrschung. Heute, in einer Zeit der Hybridisierung des Wissens und der galoppierenden Klimakrise, in der historische Debatten maßgeblich von Dekolonisierung und Dezentrierung geprägt sind, würde ein solcher Anspruch indes reichlich anachronistisch daherkommen.
Dass das Konzept der Atlanten sich trotzdem mit Gewinn in die Gegenwart übertragen lässt, beweist der der französische Geohistoriker Christian Grataloup, dessen Atlas zur Geschichte der Erde soeben auf deutsch erschienen ist. Die Neuerscheinung muss als Erweiterung und Ergänzung des vor einem Jahr erschienenen und sehr erfolgreichen Atlas Geschichte der Welt verstanden werden. Dieser hatte sich zwar eine „Emanzipation von den großen europäischen Erzählungen“ zum Ziel gesetzt und wollte der „Diversität der Regionen und der Unvorhersehbarkeit ihrer jeweiligen Zukunft“ gerecht werden, blieb aber dennoch ein recht klassisch konzipierter Geschichtsatlas, der aktuelle Debatten lediglich streifte. Der nun erschienene Band Geschichte der Erde hält, was versprochen wurde. Er verschiebt gleich mehrere Perspektiven und setzt so die Geschichte der westlichen Zivilisation ins Verhältnis zum Rest der Welt und die Geschichte der Menschheit ins Verhältnis zur Erdgeschichte.
So wird auf zahlreichen Karten dargestellt, wie sich die Menschen bald nach der letzten Eiszeit immer weitere Lebensräume erschlossen haben und bereits lange vor unserer Geschichtsschreibung enge interkontinentale Handelsverbindungen entstanden. Ebenso wird anschaulich gezeigt, wie in der Neuzeit, etwa mit dem „großen kolumbianischen Austausch“, auch „Kolumbus-Effekt“ genannt, eine Art frühe Globalisierung von Pflanzen und Tiere einsetzt und viele Arten in Gebiete importiert wurden, die heute als typisch für die Region gelten – man denke nur an die Tomate in Italien oder die Kartoffel hierzulande. Erzählt wird auch wie klimatische Veränderungen schon frühere Gesellschaften beeinflussten und die langsame Erforschung des Ökosystems und der Atmosphäre, die mit zunehmenden ökologischen Problemen stetig wichtiger wurde und spätestens seit den 1970ern etwa mit dem berühmten Bericht des Club of Rome von den „Grenzen des Wachstums“ ins Licht der Öffentlichkeit rückte. Auf anderen Karten werden Kultur- und Technikgeschichte thematisiert und mit Fragen verbunden, die die Menschheit bis heute begleiten, etwa, ob technische Neuerungen wirklich zu einem besseren Leben führen oder nur punktuelle Erleichterungen brachten – auf die freilich auch Grataloup keine Antwort geben mag.
Unterbrochen werden die geografischen Darstellungen von einer durch den Band gezogenen „Geschichte der Wissenschaft“, die den erdgeschichtlichen und geohistorischen Erläuterungen einen ideengeschichtlichen Strang zur Seite stellt. Dieser widmet sich Themen wie dem Abschied vom geozentrischen Weltbild, der Darstellung der Sintflut in Bibel und Koran oder dem westlichen Dualismus von Natur und Kultur. Überhaupt wird mit dem Wissensstand der Gegenwart angenehm souverän umgegangen, insbesondere wenn es um die weißen Flecken der heutigen Wissenschaft wie die Entstehung des Lebens oder die unterschätzte Dynamik der Erderwärmung geht, die umstandslos als bislang unverstanden eingeräumt werden.
Das rund 300 Seiten starke, nun bei C.H.Beck erschienene Werk ist in neun Kapitel gegliedert, die von den Anfängen des Universums über die Ausbreitung des Lebens auf dem Planeten eine Geschichte der langsamen Expansion erzählen. Als der Mensch auf der Weltbühne erscheint, beschleunigt sie, führt immer rasanter bis ins Kohlezeitalter und schließlich in unsere Gegenwart des „überlasteten Planeten“, der das letzte Kapitel gewidmet ist. Christian Grataloup, bis 2014 Professor für Geogeschichte an verschiedenen Pariser Universitäten, ist in Frankreich ein bekannter Experte für Geografie, Geologie und Globalisierung, deren Schnittstellen und deren Geschichte. Vor einigen Jahren legte er mit seinem ersten in Deutschland erschienenen Buch Die Erfindung der Kontinente so etwas wie eine Historie der Geopolitik vor, die unter anderem westliche Auffassungen von der geographischen Ordnung der Welt sezierte.
Der Atlas Geschichte der Erde erzählt eine ambivalente Geschichte unserer Gattung, deren ungestümer Expansionsdrang nur einen Wimpernschlag der planetaren Zeit benötigte, um die eigenen Lebensgrundlagen in bedrohliche Schieflage zu bringen. „Unsere Gegenwart ist zugleich Milliarden Jahre und wenige Jahrhunderte alt“, heißt es im Vorwort, und vielleicht ist das Herausarbeiten des gewaltigen Missverhältnisses zwischen menschlicher Wahrnehmung und planetarer Zeit der größte Verdienst des Bandes.
Im Anthropozän, also dem erdgeschichtlichen Zeitalter des Menschen, dem auch eine Seite gewidmet ist, ist dieser nicht, wie oft suggeriert, zum Subjekt der Erdgeschichte geworden. Der Planet hat in 4,5 Milliarden Jahren seines Bestehens viele Krisen erlebt und wird auch die Menschheit überleben, so oder so. Das Anthropozän markiert vielmehr jenen Moment, in dem der Mensch Verantwortung für den Fortbestand der eigenen Gattung übernehmen muss, wenn er vermeiden will, dass die permanente Übernutzung der Ressourcen in Effekte umschlägt, die die Welt für Menschen unbewohnbar machen. Verschwinden würde jedoch nicht der Planet Erde und nicht das Leben auf ihm, nur wir.